VW Phideon: Treue Seele für China

| 26.08.2016


"Phideon" heißt es dort in großen Lettern. Ein Kunstwort, das Altsprachler an Phides erinnern mag, die griechische Göttin der Treue. Die phonetische Nähe zum Phaeton, jenem Oberklasse-Volkswagen mit Zwölf-, Acht- und Sechszylinder-Motoren, den die Wolfsburger nur in China erfolgreich verkaufen, ist mehr als offensichtlich.

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Nun muss die speziell für China entwickelte und auch dort gebaute 5,05 Meter lange, 1,87 Meter breite und 1,48 Meter hohe Limousine mit über drei Meter Radstand liefern, was der Phaeton als würdiger Mitspieler im Haifischbecken der automobilen Oberklasse an Vermächtnis hinterlässt. Die technische Basis des konzernweit verfügbaren MLB (Modularer Längsbaukasten), einem Systembaukasten des modernen Automobilbaus, soll's möglich machen. Womit der Phideon ab September 2016 punkten will, erfahren wir auf Ausfahrten in Wolfsburg und Südchina.

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Wir wecken den Sechszylinder über einen Starterknopf in der Mittelkonsole. Völlig vibrationsfrei nimmt das Triebwerk seine Arbeit auf, schnurrt kaum vernehmbar. Nahezu lautlos verlassen wir SAIC Volkswagen in Aning. Nach einer Stunde Stop-and-Go liegt der zähe Stadtverkehr Shanghais hinter uns. Wir pflügen über die mit Waschbecken großen Schlaglöchern und Dezimeter hohen Verwerfungen garnierte G15, eine der schlechtesten Autobahnen Chinas.

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Erschien uns das Luftfeder-Fahrwerk des Phideon im Komfortmodus innerstädtisch zu weich, so möchten wir sein hohes Schluckvermögen auf dem Trampelpfad des chinesischen Fernverkehrs nach Süden nicht missen. Es verfügt sogar über eine Niveauanhebung zum langsamen Überfahren sperriger Hindernisse! Besonders erfreulich: Auch das Poltern der Blattfeder-Achsen von neben uns fahrenden Lastwagen bleibt unseren Sinnen weitgehend erspart. Die Passagiere sitzen in einem von der Außenwelt sehr wirksam abgeschirmten Reiseabteil, wie wir es von der Mercedes S-Klasse und dem 7er-BMW kennen. Damit im Phideon niemand mit Atemschutzmaske reisen muss, verfügt er außerdem über eine Klimatisierung mit "Clean-Air"-Paket.

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Dass das Arbeitsgeräusch des aufgeladenen 3,0-Liter-Sechszylinders nahezu komplett unterdrückt wird, ist den Ansprüchen chinesischer Kunden an eine Chauffeurs-Limousine geschuldet - der Besitzer sitzt meistens hinten rechts. Abgeschirmt durch Fensterrollos und getönte Scheiben, kann er dort arbeiten, telefonieren oder sich dem Schlaf des Gerechten hingeben. Sollte er mehr Beinfreiheit wünschen, fährt er den Beifahrersitz vom Fond aus elektrisch weit nach vorn.

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So dürfte die Leistung des aus dem Audi-Regal entliehenen V6-Motors von 220 kW/299 PS nur eine untergeordnete Rolle spielen. Der Selbstfahrer kann sich am Durchzug des Phideon-Aggregats erfreuen, das schon ab 1.800 Touren gut am Gas hängt. Eine sportlich spontane Gasannahme aber wäre fehl am Platz. "Wenn es der chinesische Markt erfordert", verspricht Phideon-Produktmanager Volker Wienecke, der das deutsch-chinesische Entwicklungsteam leitet, "werden wir auch einen 2,0-Liter-Vierzylindermotor mit 165 kW anbieten und gegebenenfalls den 1,8-Liter-Vierzylinder mit 140 kW aus chinesischer Fertigung." Dass Mitte 2017 zudem ein Phideon mit Plug-in-Antriebsstrang hinzukommen wird, ist ausgemachte Sache.

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Bereits im Lastenheft standen neben der Fünfsitzigkeit auch eine Einzelsitzanlage im Fond mit bis zu 35 Prozent neigbaren Rückenlehnen. Die vielfach elektrisch verstellbaren Sessel können zudem elektrisch belüftet und beheizt werden und werden wie britische Nobelkarossen über die Mittelarmlehne gesteuert. Dazu kommen wunderbar weich belederte Kopfstützen mit verstellbaren Seitenbacken wie in Business-Class-Sitzen eines Airbus 380. Sonst bietet diese Annehmlichkeiten nur ein vielfach teurerer Mercedes-Maybach.

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Mittlerweile schweben wir über die G92 Richtung Hangzhou Bay Bridge südwärts. Wir behalten die Komfortstellung der Fahrdynamikregelung bei. Die Lenkung des Phideon folgt gleichfalls chinesischen Komfortansprüchen und entkoppelt den Fahrer weitgehend von der Beschaffenheit des Straßenbelags.

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Neben der Hupe ist die Bremse meist beanspruchtes Bauteil im chinesischen Verkehrsalltag. Die plötzlichen Spurwechsel und das Einscheren ungeachtet gültiger Vorfahrtsregelungen verlangen nicht nur eine kräftige, sondern insbesondere eine gefühlvoll ansprechende Bremsanlage. Im Phideon beißt sie zwar ordentlich zu, bedarf aber eines langen Pedalwegs und zu hoher Pedalkraft. Man vermisst einen frühen Druckpunkt, der gefühlvolles Bremsen erlaubt.

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Doch warum kommt die VW-Oberklasse nicht nach Deutschland? Ausstattung und Fahrverhalten des Viertürers würden durchaus auch zu europäischen Kunden passen. Das hat strategische Gründe: Zu Beginn liefen die Entwicklungen des Phideon und des Phaeton-Nachfolgers parallel. Als 2015 beschlossen wurde, den kommenden Phaeton ausschließlich als Elektromobil zu bringen, rutschte der Phideon - gewissermaßen außerplanmäßig - in die Rolle des Oberklasse-Volkswagen für China. Und eine nachträgliche Umrüstung auf internationale Normen wäre kostspielig. "Wir wollen nicht ausschließen, dass diese Option später genutzt wird. Doch aktuell bauen wir den Phideon nur in China für den heimischen Markt", stellt Dr. Licharz klar.

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Eine weitreichendere Bedeutung hat die Frontgestaltung. Die horizontale Gliederung über zwei Stockwerke hinweg zeigt erstmals das neue Markengesicht aller künftigen VW. Oben die dreigliedrige Kühlerspange, die nahtlos in die Hauptscheinwerfer läuft. Und unten eine zweigliedrige Einheit mit weiteren Kühleinlässen, begrenzt von Zusatzleuchten mit Kurvenlicht. Dieses mit reichlich Chrom geschmückte Gesicht mag den repräsentativen Anspruch des Phideon durch üppige Breite stützen, doch fehlt der geometrischen Strenge jene verspielte Leichtigkeit, die emotionale Sympathie erzeugt. So folgt die exzessive Verwendung von Chrom in der Front, am Heckdeckel und den Abgasendrohren dem Zeitgeist des chinesischen Geschmacks, geht aber am europäischen vorbei.

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Im Innenraum setzt die analoge Uhr im Armaturenträger einen eleganten Akzent - ebenso wie der breite Schaltknauf für das siebenstufige DSG. "Chinesische Kunden wünschen hier, ihre Hand ablegen zu können", sagt Volker Wienecke. Jeder Schalter, jedes Rädelrad ist mit Chrom verziert. "Leuchten sind das neue Wurzelholz", kommentiert Dr. Licharz die üppige Ambiente-Beleuchtung über LED-Einheiten und verrät schon heute, dass das Lichtspiel künftig nochmals virtuoser ausfallen wird.

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Der neue Phideon ist der erste von China aus initiierte und dort hergestellte Volkswagen für die Oberklasse, die aktuell noch von Importfahrzeugen dominiert wird. Doch vor allem ist der Phideon Ausdruck der neuen globalen VW-Strategie, regionale Märkte für die Produktfindung und -ausprägung stärker einzubinden als bisher. "Diese Märkte sollen in größerer Eigenverantwortung unternehmerisch handeln", sagt Dr. Licharz.

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Ab 359.000 RMB - umgerechnet rund 48.000 Euro - wird SAIC Volkswagen den neuen Phideon anbieten. Bei diesem Preis wird BMW-Fahrer LuBai nachdenklich und schielt noch einmal auf die Phideon-Fondsitzanlage. Zur Markteinführung im September 2016 werde er mit seiner Familie einen Volkswagen-Händler aufsuchen, sagt er. Dass er einer der wenigen Eroberungskunden werden könnte, die der Phideon von einer anderen Marke herüberzieht, ist damit keineswegs gesagt. Markenloyalität wird in China ganz groß geschrieben.

Jürgen Zöllter/mid mid/zöl
Bildquelle: Lingkai Kong






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